Glas, Glas

„Glas, Glas
Was ist das?
Es ist und ist nicht,
Es ist Licht und kein Licht,
Es ist Luft und nicht Luft,
Es ist duftloser Duft.
Und doch ist es hart,
Ungesehen harte Gegenwart
Dem gefangenen Vogel, der es nicht sieht
Und den es in die Weite zieht.
Ein Lied möchte ich dichten von Glas,
Einen Hymnus ersinnen
Im Geiste tief innen vom trockenen Nass.

Glas, Glas
Was ist das?
Es glänzt wie Wasser und ist nicht nass.
Gieß Wasser in ein gläsernes Glas
Klar und rein:
Es wird Glas im Glase sein.
Und ist es Wein,
Dann ist das gläserne Glas voll Farbe und Duft,
Und selber das Glas, ist nichts oder Luft:
Eine Form aus Luft, eine Form aus Nichts,
Ein leeres, leuchtendes Kind des Lichts.
Wo bist du Glas? Ich sehe dich nicht,
Nur den Strahl, der sich in dir bricht.
Du bist vielleicht nur ein Gleichnis vom Geist,
Ein Spiegel von Bildern und Strahlen gespeist.
Geist hat weder Zeit noch Ort.“

Auszug von Gerhart Hauptmann, 1964